Bilder aus voreigener Zeit

Erinnerung und Eskapismus bei Peer Daheim & Boehm Anderswo


Diese Dame hat mehr als einen Vogel. Sie hält sich die flatterhaften Tiere, um daheim genügsame Gesellschaft zu haben. Oder etwa nicht? Die Wellensittiche könnten hitchcockhafte Bedrohungen bedeuten. Im Vergleich zu der Frauengestalt in der Arbeit von Peer Boehm sind sie überdimensioniert. Wenn es Krähen wären, würde unser ikonografischer Scharfsinn soufflieren, dass sie womöglich für nichts Gutes stehen. Unklar ist indes, ob sie überhaupt auf derselben Realitätsstufe zu denken sind wie die Frau, die sie fixiert – oder aber durch sie hindurch blickt. Imaginieren die Vögel gar ihrerseits die menschliche Figur? Schließlich ist die Seniorin schemenhaft und anämisch dargestellt wie eine verblassende Erinnerung, während die Vögel markanter und mit deutlich stärkerer Plastizität wiedergegeben sind.
Das ist ein durchgängiges Prinzip der Kunst von Peer Boehm, der die ältere Frau im Jahr     2008 an die beiden Vögeln bindet, und gibt ihr Spannung: Es scheint, als injiziere er den Arbeiten einen Subtext. Als Ergebnis spezifischer Ausschnittwahl und Farbgebung,  Aussparung oder Verdichtung im Dienst der Fokussierung inspiriert ein Geflecht des Vorstellbaren die Kontextualisierung. Boehm muss unterschwellige Bedeutung jedoch nicht angestrengt konstruieren. Je nach persönlichem Vorwissen, subjektiver Erfahrung und dem jeweiligen Gemütszustand produziert teilweise der Betrachter selbst eine Metaebene oder erfährt individuell einen Nachhall. „Der Betrachter vollendet das Bild“, sagt Boehm frei nach Duchamp.

 

Wir alle verbinden etwas mit Boehms Arbeiten. Wie die Triangel jäh aufhorchen lässt,  bringen sie in  unserer Vorstellungswelt unvermittelt etwas zum Klingen, ohne dass sich dieses allerdings immer sofort benennen oder zurücknehmen ließe. Das ist Programm. Wegen des durchdringenden Klanges kommt der Triangelschlägel üblicherweise maßvoll zum Einsatz. Der Flut der Assoziationen, die Boehms Bilder auslösen können, indem sie einen respondierenden Ton in uns anschlagen, ist das Publikum dagegen anhaltend ausgeliefert. Mal werden sie mit dem Gefühl der Beklemmung quittiert, mal genießerisch oder amüsiert rezipiert. Einige suggerieren Erkenntnisgewinn und oft ist das kollektive Bewusstsein im Bilde.
Die häufigste Reaktion auf Boehm dürfte die Projektion sein. Der Rezipient bezieht die jeweilige Darstellung unwillkürlich auf seinen ureigenen Erfahrungshorizont: Boehms
Bilder können als Schlüsselreiz wirken. Der Betrachter mag sich zurückversetzt fühlen in die eigene Kindheit, in eine ferne, nur vom Hörensagen oder durch andere Quellen
bekannte Epoche sowie auch wiederfinden an einem fremden (Sehnsuchts-) Ort. Nicht anders als Boehm selbst. Er wählt seine Vorlagen „intuitiv“ nach subjektiven Gesichtspunkten aus: „danach, wie stark sie mich berühren oder an mein eigenes Leben erinnern“. 1968 geboren, hat er die 1960er Jahre selbst kaum mehr bewusst erlebt, verspürt aber einen starken Bezug zu jener Ära, in der alte Nazis an neuen Schaltstellen saßen, während Design, Mode und Architektur ästhetische Höhenflüge erlebten und junge Leute aus dem bürgerlichen Korsett aus- und ins Hippie - Zeitalter aufbrachen: nicht zuletzt befeuert vom neuen Ton in Film und Fernsehen und der musikalischen Revolution, die mit der politischen einherging.

„Mein zentrales Thema ist das Erinnern“, sagt Boehm. Claude Picasso sagte über seinen Vater: „Er arbeitete aus der Erinnerung“. Gemeint ist die intime Künstlererinnerung. Demgegenüber widmet sich Boehm dem ubiquitären Ansammeln von Momenten, Situationen und Zuständen, auf die es sich zurückgreifen lässt, ohne dass zwingend ein fester Wille am Steuer sitzt. Eine Klaviatur der Stimmungen und Empfindungen mag daher sein Publikum durchlaufen. Es erlebt einen Flashback, auch Echorausch genannt, der es für Bruchteile von Sekunden oder eine längere Weile aus dem Alltag herauskatapultiert und anderswohin bringt. Ein Erlebnis der Vergangenheit, ein Gefühlszustand, eine Wunschvorstellung, aber auch Ängste gelangen vorübergehend aus der Tiefe des Unterbewusstseins an die Oberfläche. Insofern können Boehms Arbeiten katalysatorisch wirken. Wie unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit funktioniert und wie leicht sie gesteuert und manipuliert werden kann, demonstriert Boehms Œuvre beispielhaft. Darüber hinaus liegt es in Zeiten von Fake News und der Beschwörung der guten alten Zeit kultursoziologisch wie weltpolitisch im Trend. Alles zehrt von der Erinnerung. Die Briten wollen das Empire zurück, die Amerikaner die Wirtschaftswunderperiode mit Straßenkreuzern. Die einen die große Liebe, die anderen die Jugend. Alles unmöglich. Vielleicht aber gut so?
Die Erinnerung ist keine verlässliche Begleiterin. Sie kann eine gemeine Opportunistin sein. In der Erinnerung verklärt sich manches. Oder es verkehrt sich sogar in sein Gegenteil. Sie lässt einen nie mehr los, ist ihrerseits ein Ort: Erinnerung ist Heimat, oder sie ist anderswo. Dort jedoch gilt ebenso wie im Hotel California, der abgründigen Herbergeder Eagles: „You can check out any time you like, but you can never leave.“

„Nach Platon ist alle Wahrnehmung Erinnerung“, sagt Boehm und beruft sich auf das in Dialogform verfasste Werk „Theaitetos“. Wir alle leben in dieser Welt und zugleich in einer, die nicht (mehr) ist. Erinnerungen können uns bedrücken und ein eklatantes Unfreiheitsgefühl auslösen. Jeder ist Gefangener seiner Geschichte und wird die Wegmarken seiner Sozialisierung nicht los. Allen Orten, die der Mensch aufsucht, kann er den Rücken kehren. Die Kindheit aber ist der biografisch betrachtet erste Ort, den keiner verlassen kann. Niemand kann sich ganz von der Konditionierung lösen, die Elternhaus und Erziehung mit sich bringen. Die Wege, die aus diesem Universum weg führen und eingeschlagen werden, um an dieses oder jenes Ziel – oder darüber hinaus – zu gelangen, bleiben als Spurrinne im Bewusstsein oder Unterbewussten erhalten, selbst wenn sie nie mehr betreten werden.

Seiner Biografie entkommt man nicht. Jeder Einzelne schleppt sie mit sich wie schweres Gepäck. Ebenso   prägen  Gemeinwesen, Volk, Staat,  nationale  Zugehörigkeit die
Befindlichkeit. Das kollektive Gedächtnis ist eine Bürde, bedeutet Verpflichtung und Herausforderung wie das individuelle. Aus dieser Basis ragen die Meßlatten für die Zukunft. Den kollektiven Rücksturz in die Ära der deutschen Nachkriegs- und Vorwendezeit oder das mitunter grell optimistische Lebensgefühl der Vereinigten Staaten befördert Peer Boehm mit lustvoller Konsequenz. Seine Bildwelten laden ein zu großer Fahrt. Er bewegt sich rastlos zwischen den Polen Daheim und Anderswo. Das geht soweit - Ironie ist für Boehm eine wichtige Reisegefährtin -, dass er eine Persönlichkeitsspaltung vortäuscht. Auf dem Cover dieser Publikation firmiert der Künstler als zwei: Peer Daheim & Boehm Anderswo. Sie ist den beiden Werkzyklen „Daheim ist am schönsten“ und „Woanders ist auch schön“ gewidmet, die seit 2006 und 2016 in verschiedenen Medien entstehen. Boehm arbeitet mit Aquarell, Tusche und Acryl auf Nessel oder benutzt Kugelschreiber, selbst wenn der Bildträger Leinwand ist. Auch Kaffee oder Rost können zur Verwendung kommen. Die Titel der Werkreihen sind semantisch eigenwillig und fügen Boehms lakonisch ironischer Haltung eine weitere Facette hinzu. Sie springen ins Auge, weil das „es“ und mithin das Subjekt fehlt: Eine Satzbauregel wird ignoriert. Der in Köln lebende Künstler führt das zurück auf sein Faible für den Ruhrgebietsdialekt. „Ich kann nicht wirklich beschreiben, warum mir das eingesparte `es´ so wichtig ist“, sagt Boehm.
Fest steht: Er bedient sich augenzwinkernd des Heimat verheißenden Idioms. Dargestellt ist in beiden Serien das gleiche. In „Daheim ist am schönsten“ trifft man beispielsweise Kinder in Deutschland, in die Nachkriegszeit hineingeboren, in ihrem alltäglichen Umfeld. Oder der Blick bleibt hängen am US-amerikanischen Glücksspiel-Dorado Atlantic City. Genauso bildwürdig sind für Boehm ein Fahrradständer mit Werbung für die Kentucky-Bourbon-Whiskeymarke „Old Faithful“, die wiederum dem berühmten Geysir im Yellowstone Park huldigt, oder eine anonyme Straßenansicht. Zum Trocknen aufgehängte Wäsche überspannt den Straßenzug: ein beiläufiges Motiv, für manche pittoresk. Für Boehm zählt das nicht. Ein Kettenkarussell ist ihm als Motiv ebenso teuer wie die Hausfrau am Herd. Auch die Dame mit Wellensittichen ist – als eine der frühesten Arbeiten – Teil dieser Werkgruppe. In „Woanders ist auch schön“ reisen wir im Kopfkino nach New Orleans, Detroit, Vancouver, London oder Rotterdam. Von dort schifften sich zahlreiche Auswanderer ein in die neue Welt, Exilanten gingen an und von Bord. Gleichwohl umfasst der Zyklus auch weniger exotisch wirkende Szenen. Boehm will Fragen aufwerfen:  Was ist daheim, wie ist woanders? Wann ist woanders, wo ist daheim? Wie ist daheim, wenn woanders daheim ist?

Wo ist woanders anders als daheim ist? Wieso ist woanders weniger daheim? Warum ist daheim oft woanders? Ist Heimat dort, wo das Herz ist oder wo das Auto parkt? Ist daheim Heimat oder ist sie nur eine Konstruktion, Projektion, Illusion  –  und mithin per se immer woanders als dort, wo sie  zu sein scheint? Peer Boehm legt sich nicht fest. Er zeigt, wie volatil der Heimatbegriff ist. Der Ort, an dem man aufgewachsen ist, gilt gemeinhin als Heimat. Doch individuell kann der Heimatbegriff völlig anders definiert sein. „Als Ort, der Sicherheit bietet, wo man sich verstanden fühlt und gekannt“, definiert Heimat Yo-Yo Ma, als Sohn einer Sängerin aus Hongkong in Paris geborener amerikanischer Cellist, der sich künstlerisch insbesondere dem gebürtigen Eisenacher Johann Sebastian Bach verbunden fühlt. Sie wisse nicht, „was Heimat heißt“, bekennt Sophie Hunger, Singer-Songwriter mit Schweizer Pass, “Ich habe keinen Bezug dazu. Das Lebensgefühl dazu kann ich mir nicht vorstellen.“ Vielerorts hat sie gelebt, pendelt zwischen Berlin und Paris, fühlt sich „nirgends wirklich“ zuhause.
„Wo meine Heimat ist? Da wo mich niemand stört, niemand wissen will, wer ich bin,  niemand wissen will, was ich tu‘, niemand wissen will, woher ich gekommen bin“, lässt B. Traven seinen Helden im Roman „Das Totenschiff“ sinnieren. Für den, der kein Daheim hat, ist das Anderswo immer ein potentielles Zuhause. Für die meisten Menschen dürfte gelten: Heimat ist, wo das Herz ist – und die der anderen nicht weit. Doch die lockende Ferne sitzt mit auf dem Sofa „Wenn ich zuhause bin, habe ich vielleicht Fernweh“, sagt Boehm, „und in der Ferne will ich daheim sein.“ Dieses Dilemma bildet die Grundlage seiner dialektischen Kunst. Boehm: „Die Begriffe daheim und woanders verwende ich synonym.“
Daheim und Woanders, sie sind austauschbar wie zwei Zitronen oder Orangen. Gegensätzlich nur vordergründig, und doch steht fest: Was süß ist, kann sauer werden - und umgekehrt. Hygge – das ultimative Wohlfühlgefühl, das gegenwärtig von einem Zweig der Lifestyleindustrie hartnäckig vermarktet wird –, und Heimat, Intimität und Vertrautheit hier, das Kolorit des Andersartigen, das Unerforschte und die exotische Herausforderung dort: Das sind die Pole, zwischen denen sich das Oeuvre von Peer Boehm entfaltet. „Zwischen dem  Dort und dem Hier“ sind seine Werkreihen verspannt wie die Wäscheleinen in der erwähnten Straßenszene: eine Momentaufnahme aus dem New York der 1920er Jahre, die Boehm neu interpretiert.
Seine Kunst ist die Aneignung. Die Bildfindung basiert wesentlich auf dem Zufallsprinzip.
Boehm selektiert die Fotovorlagen, die für seine Arbeit relevant sind, nicht systematisch. Er bedient sich ihrer je nach Stimmung, wobei das Sujet  von geringerer Bedeutung ist als das transportierte Gefühl oder die Empfindung. Seine Vorlagen findet Boehm in Fotoalben vom Flohmarkt oder im Internet. Das Found-Footage-Material überarbeitet er in seiner spezifischen Weise seit mehr als zehn Jahren. 2006 nennt er sein „Wendejahr“. Damals entwickelte er die bildnerische Technik, die zu seinem Markenzeichen wurde, und begann seine Motive aus dem großen Kollektivschatz auszugraben, der Nationen und Kulturen verbindet. Die Orte werden mitunter benannt, die Personen bleiben anonym. Gerade dadurch wirken die Arbeiten suggestiv, ziehen den Betrachter in ihren Bann, machen Angebote zur Identifikation – auch ex negativo. Reduktion bewirkt Suggestion. Boehms prägnanter Duktus lässt die fotografischen Vorlagen auf ihre faktische Essenz zusammenschnurren, auf eine fragmentarische Komponente und ein narratives Grundgerüst – um sie für ein fiktives Erinnern aufzuladen. An diesem Punkt setzt die grafische, malerische Überarbeitung an. 

Die Aquarelltechnik als duftiger, die Flüchtigkeit betonender Farbauftrag mit ihrer Qualität der Verdünnung, die tiefere Bildschichten oder den Malgrund durchscheinen lässt, kommt Boehms transitorischem Ansatz besonders entgegen. Er schüttelt Linearität und Kausalität ab, streift Zeitläufte und arrangiert seine Fundstücke so vielschichtig wie vieldeutig unter Berücksichtigung der potentiellen Betrachterreaktion und eingedenk der Kunstgeschichte. Mit Tusche und Aquarellfarbe verpasst er beispielsweise einzelnen Bildgegenständen einen rötlichen Anstrich und provoziert mit dem signifikanten Farbstich Assoziationen zur Rötelzeichnung mit ihrem künstlerisch hohen Anspruch. Deren besondere Ausdrucksstärke schätzten Renaissance, Barock und Rokoko gleichermaßen. Boehm stehen, kunsthistorisch gesehen, die deutschen Romantiker und die Niederländer des Goldenen Zeitalters nahe: mithin Kunst aus einem Zeitraum, der mehr als zwei Jahrhunderte umspannt.
Er findet die „niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts inspirierender“ als Kollegen, die, wie er selbst nach Fotovorlagen arbeiten. Vor allem die Alten Meister fordern ihn heraus. Inhaltlich spielen Design und Lebenswelt der fünfziger und sechziger Jahre eine große Rolle neben der Kriegs- und Nachkriegsära oder nostalgisch Verklärtem aus unbestimmter Zeit.
Die älteste Vorlage für die beiden suggestiv verschränkten Werkreihen zur Definition von „Daheim“ und „Woanders“ stammt aus dem 19. Jahrhundert. Ein Ort in Florida: Ormond an der Ostküste des Sunshine State, lieferte 1898 einem Fotografen ein bildwürdiges Motiv. Wenig später hatte das Haus Henry Flagler übernommen, legendärer Öl- und Eisenbahnbaron und „Vater“ von Miami. Das Ormond war ein Top-Hotel seiner Zeit, hat den Tourismus entscheidend befördert und vielleicht Fotografien wie die, die Boehm fand, mit ermöglicht oder überhaupt erst angeregt. Für viele Gäste dürfte das Hotel, das rund hundert Jahre nach seiner Einweihung abgerissen worden ist, ein Stück zweite Heimat oder das erträumte Anderswo schlechthin gewesen sein. Selbst Rockefeller urlaubte dort. Boehm hat das Erinnerungsbild aus Florida auf seine Art weiter entwickelt. Der idyllische Charakter des Flusslaufs wird betont. Ein Schiff ist zu sehen und ein kleines Boot. Tom  Sawyer und sein Freund ohne festen Wohnsitz: Huckleberry Finn kommen in den Sinn. Das ist eine Qualität des Œuvres von Peer Boehm: Seine Bilder aus „voreigener Zeit“ stimulieren Erinnerung und Eskapismus. Sie laden zum Träumen ein, vermitteln zwischen Nah und Fern, tippen nationale Eigenheiten und vaterländische Heimat ebenso an wie das Zuhause des Individuums. Der augenblicklich so scharf wie bisweilen dümmlich geführte Diskurs über Heimat wird in Boehms Werk ebenso angesprochen wie das Geschwisterpaar Verortung und Identität. Wesentlich verhandelt Boehm die hochaktuellen Themen „Zugehörigkeit“ und „Fremdsein“. Ihm mögen die zahlreichen Aufnahmen von Orten, Städten und Landschaften in den USA, auf die er sich stützt, zufällig in die Hände geraten sein.
B. Traven, 1882 in San Francisco geboren und 1890 gestorben in jenem Jahr als Flagler das Ormond Hotel übernahm, hat der Heimat beziehungsweise dem Verlust von Heimat vorsätzlich das Jahrhundertbuch „Das Totenschiff“ gewidmet. Auf den Yorikkes dieser Welt, die als schwimmende Särge gelten, stranden diejenigen, die keine Heimat und Papiere (mehr) haben. Nicht-Existenzen. Traven schrieb den Roman schlechthin über jene elenden Menschen ohne die erforderlichen Nationalitätsnachweise, während Boehm diejenigen ins Visier nimmt, die ihre Heimat frei wählen können.

Er ist groß geworden in einer Zeit als das Fach Heimatkunde in den Schulen nicht Gefahr lief, auf den ideologischen Seziertisch oder gar auf den Index zu kommen, und widmet sich dem Heimatempfinden aus der Perspektive des modernen Weltbürgers und Reisenden, die Unbekümmertheit derer ins Auge fassend, die Dokumente besitzen und überall hinkönnen. In seinen aktuellen Werkzyklen berührt Boehm das menschliche Urverlangen, zur selben Zeit an verschiedenen Orten sein zu wollen. Dabei sind Travens Orte auch Boehms Orte. Seine großformatige Mixed-Media-Arbeit „New Orleans 1906“, entstanden 2016, zeigt Schiffe im Hafen: Segler, einer neben dem anderen am Kai liegend, bereit zur nächsten Fahrt. „Oh du sonniges, lachendes New Orleans“ schreibt der amerikanische Schriftsteller. Oder: „Rotterdam ist eine hübsche Stadt. Wenn man Geld hat.“ Aus der Sicht des Deckarbeiters Gales, der seiner Papiere verlustig ging, ist Europa – wo er von einem Land ins andere gejagt, wenn nicht erst einmal inhaftiert wird – der nackte Horror und das Totenschiff Yorikke die Hölle.
In Boehms Arbeit „Woanders ist auch schön - Rotterdam 1921“ aus dem Jahr 2018 dominiert ein Ozeandampfer das Bild. Die Rotterdam war ein Transatlantikliner der Holland America Line und pendelte zwischen Rotterdam und New York: Dass Boehms jüngste Schaffensphase mehrere New-York-Ansichten umfasst, ergänzt das Gesamtbild, das sie zeichnet vom europäisch-amerikanischen Austausch und Aufbruch zu den sprichwörtlich neuen Ufern.
Auch in „Detroit River 1927“ (2016) ist das Bildmotiv der Schiffsverkehr. Da viele Damen an Deck einen Sonnenschirm tragen, scheint es sich um eine Momentaufnahme von Festivitäten und Ausflugsvergnügen zu handeln und nicht von Auswanderer-/Einwandereraktivitäten. Doch mehr erfährt der Betrachter nicht. In der Natur der künstlerischen Bearbeitung Boehms liegt es nun einmal, den Bildgegenstand, der ohnedies oft eine nur vage Vorstellung von einem Ort oder einer Situation vermittelt, ein Stück weit zu verrätseln. Ob er sich ihm als Projektionsfläche darbietet für Wünsche und unbestimmte Sehnsüchte oder für diffuse (Verlust-)Ängste entscheidet der Betrachter.
In „London“ (2018) heben die britischen Imperial Airways ab, eine 1924 gegründete britische Luftfahrtgesellschaft. Nunmehr wollen die einst wagemutigen Briten die Europäische Union verlassen, um ihre Heimat abzukapseln, sich abzuschotten und buchstäblich weniger Fremdkörper und Zuwanderung ertragen zu müssen. Imperial Airways war gegründet worden für die internationalen Verbindungen nach Europa und ins Empire, das die Brexiteers wie eine verlorene Heimat zurückersehnen. Schon 1924 wurde Boehms Heimatstadt Köln von London aus angesteuert. Am 30. März 1929, 90 Jahre vor dem Brexit, flogen die Briten erstmals nach Indien. In der Folge kamen die Inder ihrerseits – ebenso wie Afrikaner und Asiaten – leicht nach England. Die britische Insel wurde Zuwandererland. Boehms Fotovorlage könnte militärisch konnektiert sein. Im 2. Weltkrieg kamen Imperial-Maschinen zum Einsatz für die Roayl Air Force (RAF).
Wenn Heimat Konjunktur hat, haben alle jenseits der Grenzen einen schweren Stand.
Im kollektiven US-Bewusstsein hat der Heimatkult eine ungleich patriotischere Grundierung als bei uns. Gründungsmythos und Nation-Building zirkulieren noch immer im Blut der vergleichsweise jungen Nation. „The great trails of the West“, sie werden bis heute von den Nachkommen der weißen Siedler geradezu hymnisch besungen und bebildert, dienen der nationalen Selbstvergewisserung auch unterbewusst. Das amerikanische Bilder- und Songbuch sind streckenweise identisch. Landnahmen wie der Oklahoma Land Run von 1889, wobei Indianerstämme, die schon 1838/39 mit Gewalt aus ihrer angestammten Heimat in östliche Bundesstaaten zwangsumgesiedelt worden waren, durch Angloamerikaner auch aus ihrer neuen Heimat vertrieben wurden, sind zentrale Erinnerungsmomente für Nicht-Indigene. Identitätsstiftender können Vorgänge kaum sein, die zum Ziel haben, dass Gemeinschaften einen bestimmten Platz als Zuhause ansehen. Die Indianerstämme wurden ihres Zuhauses beraubt: Die Geschichte von Ankunft und Landnahme ist nicht selten auch eine der Versklavung und Vertreibung sowie unsäglicher Anmaßung und Gewaltanwendung. Sie endet nie. Dafür sorgen viele Faktoren, Aufbruchsdrang und Frontiergedanke nicht zuletzt, die Idee vom Zurücklassen und Weiterkommen. Ist das Gras woanders nicht immer grüner, die Kühe sind bunter, und die Milch ist fetter? „Gehen Sie doch nach Deutschland. Das ist auch ein sehr schönes Land“, muss sich der Amerikaner Gales, der doch nirgendwo mehr hin kann, einmal empfehlen lassen. „Ein Unbekannter, offenbar ein Seemann, das ist alles, was von ihm gesagt wird“, heißt es bei Traven. Am Ende versinkt die Yorikke.

Warum nun beschäftigt Boehm, der seit 2015 auch Fundstücke wie originale Seekarten der 1960er und 1970er Jahre als Bildträger einsetzt, so vieles, was untergegangen ist, währendUtopie keinen Platz hat? „Vielleicht fällt es mir leichter, mich mit Bildern aus der voreigenen Zeit zu befassen“, sagt der Künstler, dessen Werk konzeptuell ist, insofern es um das Wesen der Post-Erinnerung kreist, „ich nenne das eine Art Flucht, die ich auch bei anderenbeobachte.“ Die tief in uns verwurzelte Neigung zu Aufbruch und Veränderung bringt Mario Vargas Llosa, der für seinem Roman über den Maler Paul Gauguin 2010 den Nobelpreis für Literatur erhielt, auf die immer gültige Formel: „Das Paradies ist anderswo.“
Es kann auch gestern gewesen sein.

Dorothee Baer-Bogenschütz, 2019